Shardgeschichte

Ein Wind streift durch das Land, das Gras beugt sich seinem Willen und lose Blätter tanzen nach seiner Flöte den Reigen.
In der Krone der Eiche säuselt es leise und ein Lied aus uralten Zeiten erklingt.
Einige wenige Sonnenstrahlen lugen zwischen dunklen Wolken hervor und verirren sich auf den Boden. So, als suchten sie etwas; Spuren der Vergangenheit.

Viel geschah damals, doch der Wind trug es mit dem Nebel davon. 

Jetzt erzählt er dem stillen Zuhörer aus der Vergangenheit und die Welt scheint den Atem anzuhalten. 

So wie damals, als alles begann und nur Stille und Dunkelheit war. Aber der Wind war schon immer da und er sah alles. 

In ihm verborgen sind die Geheimnisse einer längst vergangenen Zeit. Ein Feld so weit wie das Auge reicht. 

Langsam wogen sich die Köpfe des Wollgrases wie Wellen im Wind. Die Sonne schien sich hinter dunklen Wolken zu verstecken. So, als ob sie das, was dort unter ihr passierte, nicht sehen wollte. 
Viele Gestalten standen dort und wo die Sonnenstrahlen es doch schafften die Dunkelheit zu durchbrechen blitzten sie kurz an Rüstungen oder Schwertern auf. 
Sie starrten sich an und Entschlossenheit, aber auch Furcht konnte man in ihren Augen entdecken. Fest umschlossen ihre Hände die Schwertgriffe. Doch würde das reichen?
Einen gemeinsamen Feind hatten die Völker. Einen der den Tod nicht kannte und der das Grauen in ihr Land brachte.

Lähmende Stille. Dann der klagende Ton eines Hornes von irgendwoher lässt die Gestalten lebendig werden. Schritt um Schritt nähern sie sich, unter ihren Füßen liegt zertrampeltes Leben und das Grün des Bodens verfärbt sich rot, die Stille zerrissen durch Waffengeklirr und Schreie. 
Kein Ende in Sicht - immer wieder stehen Feinde vor ihnen, scheinen aufzustehen wenn man sie doch annahm getötet zu haben. Das Grauen greift um sich. Doch aufgeben? Nein, das wollen sie nicht, denn die Hoffnung stirbt zuletzt. 
Schwarz ist deren Rüstung und kein Sonnenstrahl wird von jener reflektiert, es scheint als ob sie das Licht aufsaugen würden. Heruntergeklappte Visiere lassen die Gesichter dieser Wesen nicht erkennen; vielleicht auch besser so, denn wer wollte schon in rötlich glühende, aber leblose Augen blicken. Kein Schmerz scheint die Gestalten aufzuhalten, denn sie bewegen sich wie von einer fremden Macht geleitet. Das Schwert dieser Macht fährt unaufhörlich zwischen die Völker und lässt abgetrennte Gliedmaßen zurück, die auf die nachrückenden Verteidiger mehr als grausig und abschreckend wirken. 
Zu Hause beten die Angehörigen, die wenigen Verbliebenen, die noch nicht Opfer dieser Wesen geworden sind. 

Scheiterten sie, wäre alles verloren und sie würden Sklaven einer fremden Macht werden. Wie aus dem Nichts waren diese Wesen gekommen. Aber waren es denn überhaupt Wesen aus Fleisch und Blut? 

Diese Frage stellte sich den Verteidigern immer wieder. Auch ein abgehackter Arm schien einen Einzelnen dieser Gestalten nicht aufzuhalten. Sie rückten stets weiter vor und kämpften.
Vor allem die Hütten der menschlichen Familien waren Ziele ihrer Angriffe, denn hier fanden sie Frauen und Kinder. Die Frauen konnten Nachkommen auf die Welt bringen, die nach den Gesetzen der Fremden Macht geformt wurden.
Jeder Junge und jeder Mann, der halbwegs ein Schwert zu halten imstande war, reihte sich in die Schar der Kämpfer ein und gab sein Bestes für seine Familie. 

Lean hatte zusehen müssen wie seine Liebsten fortgeschafft wurden, sein Schwert hatte nichts ausrichten können bei so vielen Kreaturen. 
Die Hütte, die er einst mit seiner Familie bewohnte, war zum Leichenhaus geworden. Der Vater und seine Brüder hatten ihr Leben lassen müssen und seine Mutter und Schwestern waren entführt worden. Als Lean, schwer verwundet in seinem Blute liegend, zu sich gekommen war hatte er versucht die Verfolgung nach ihnen aufzunehmen; doch vergeblich, es waren zu viele deren er sich erwehren musste. Angst und Gräuel verbreitete sich unter den Bewohnern und eine Spur des Todes zogen jene nach sich, die auf der Suche nach weiteren Menschen waren. 

Die Hoffnung hatte Lean nie aufgegeben. Doch konnte er, wie alle Völker, nicht verstehen warum die Göttin ihnen diese Prüfung auferlegte. Sein Zuhause wurde das Kloster. Das Schwert wollte er weiterhin für das Gute erheben sodass er weiterhin jeden Morgen seine Waffenübungen durchführte.
Nachts saß er oft bei halb herunter gebrannter Kerze über Pergamenten und Büchern und versuchte mehr über diese seltsamen Gestalten herauszubekommen. Im Klostergarten sann er vor sich her, sprach mit anderen über die Schrecknisse und versuchte den Mitbrüdern dennoch Mut zu machen und sie mit der Göttin zu versöhnen. 
Vor dieser letzten Schlacht war er, wie jeden Tag, zum Altar der Göttin gegangen und hielt Zwiesprache mit ihr. Lean kniete vor dem Altar, beugte demütig den Kopf und betete für die Erleuchtung und den Schutz der Göttin für diese letzte Schlacht. 
Eine weiße Rose, gepflückt von einem Rosenstock des Klostergartens; jene welche nie welkte solange Hoffnung bestünde, ruhte an seinem Herzen und sollte ihm Kraft geben. 

Wären Regentropfen vom Himmel gefallen, so wären diese nicht auf den Erdboden gelangt. Eng beieinander standen die Männer der verschiedenen Völker in der letzten entscheidenden Schlacht. So wie das Licht des Tages schwand, so nahm auch die Zahl der tapferen Kämpfer ab; doch wie ein schwarzer Vorhang fielen immer mehr Feinde über das Schlachtfeld her. 
Gab es denn noch Hoffnung? In seiner Not zog Lean die weiße Rose unter der Rüstung hervor, die keineswegs zerdrückt, sondern so frisch schien, wie gerade erst gepflückt. 
Hoch hielt er sie gen Himmel und rief mit seiner letzen Kraft die Göttin um Hilfe an. Wie als Antwort verströmte die Rose einen herrlichen Duft, der wie Nebel über das Schlachtfeld zog und alles Schlechte aufsog. Daneben ertönte ein reiner Glockenklang der einem vor Wehmut Tränen in die Augen trieb. 
Als Lean den Blick über das Schlachtfeld schweifen ließ, sah er, dass die geschlagenen Feinde tatsächlich tot liegen blieben. Ein nahes Flügelschlagen und der Ruf einer Eule ließ seine Augen den Horizont erblicken. 
Da kamen sie! Hilfe in größter Not! Ein Rauschen erfüllte die Luft: Drachen. Geschöpfe die einer anderen Macht unterstanden; der Macht und Güte der Lichtgöttin. 
Als die Schlacht geschlagen war, sank Lean auf den mit Blut und Verwüstung durchtränkten Boden. Erschöpft und müde dankte er für die Gnade der Göttin.
Die Eule flatterte um ihn herum und in seinem Kopf entstanden auf seltsame weise Worte: „Nimm die Rose und zerstöre den Spiegel! Für alle Zeiten soll der Durchgang verschlossen bleiben.“
„Warum ich?“ entrang er seiner Seele. „Lean, du besitzt die Fähigkeit der vollkommenen Liebe. Nur Du kannst es schaffen. Zerstöre ihn und verwahre die Scherben an geheimen Orten.“

Mit letzter Kraft und angetrieben von seinem Auftrag und dem Vertrauen, welches in ihn gesetzt wurde, machte Lean sich auf den Weg. Der Schweiß nahm ihm die Sicht und die Wunden scheuerten und brannten unter der Rüstung. 

Er versuchte dies alles zu ignorieren und rief sich stattdessen das Wissen und diesen Spiegel in Erinnerung. 
In der Klosterbibliothek hatte er vor langer Zeit ganz oben in einem Regal eine brüchige vergilbte Pergamentrolle gefunden. Wer sie beschrieben hatte ging daraus nicht hervor, da sie schon an manchen Stellen zerstört und unleserlich war. 
Allerdings konnte man aus der sauberen Schrift mit den doch, schon sehr verblassten, Bildern entziffern, dass es in diesem Text um einen Spiegel ging, der sich tief unter dem Schwarzfelsgebirge befand. Lean hatte sich beim lesen gewundert, dass es ein Tor zur Anderswelt sei; dachte er doch immer, dass nur Druiden und Geistesbeschwörer Kontakt zu dieser aufnehmen könnten. Sein Staunen war noch gewachsen als er erfuhr, dass er eine Schöpfung der Göttin war. 
Der Gott des Todes, Careonnyn, hatte sich mit einem Gang im Schwarzfelsgebirge die Möglichkeit geschaffen, zu den lichtgläubigen Menschen zu gelangen. Die Göttin des Lichtes, die Allwissende und Allsehende, schuf einen Spiegel mit fünf Runen versehen, der Böses aufhalten konnte, sodass der Gang mit dem Spiegel als Tür verschlossen blieb und dennoch das Gleichgewicht der Welt erhalten blieb. 
Niemals durfte die Tür geöffnet werden, da dann Unheil und Verderbnis über die Welt käme, so stand es auf der alten Rolle, die einst voller Staub gewesen.
Irgendjemand jedoch hatte von dem Spiegel gewusst und die Tür geöffnet. So waren das Böse und die Dunkelheit in ihr Land gekommen. 

Langsam war sein Vorwärtskommen. Überall in den Gängen unter dem Schwarzfelsgebirge lagen Körper von zweifelhaftem Vorkommen und ein fürchterlicher Gestank lag in der Luft. 
Nur das wenige Licht der Kristalle im Felsgestein hatte ihm den Weg erleuchtet und mit der Rose in der Hand, von der weiter ein so reiner Klang ausging, gelangte er zum Spiegel der schwarz am Rand und in der Mitte leicht rot pulsierte. 
Doch was nun tun? Ratlos hatte er vor dem Spiegel gestanden. In seinem Innern überschlugen sich seine Gedanken. Würde dieses Tor zerstört gebe es keinen Eingang mehr in die Anderswelt und all das Böse müsste dort bleiben.
Wie von selbst war die Hand zum Schwert gesunken, denn gab es hier nicht etwas zu bekämpfen? Sein Vater hatte ihm dieses Erbstück einst feierlich mit den Worten „setze es stets für das Gute ein“ überreicht.
Nun hob er sein Schwert und hieb entschlossen gegen den Spiegel; es folgte ein Dröhnen und Klirren.

Lean hielt seine Ohren zu und um ihn bebte die Erde, Geröll kullerte herab und kurzzeitig glaubte er, dass der Gang einstürzen würde. Doch so wie es begann, so war auch plötzlich wieder Stille. Lean blickte verwirrt auf und entdeckte im Staub zu seinen Füßen fünf Scherben. Als er sie jetzt näher betrachten konnte, erkannte er auch die Runen, die so wie auf dem Pergament waren, welches er in der Bibliothek studiert hatte. Jede sah wie zu einem Element zugehörig aus, doch eine stach daraus hervor über die er schon damals grübelte. War es jene, von der er hörte, dass sie alles Leben verwob und zusammen hielt?
Nachdenklich, so, wie schon damals, war er geworden. Doch er erkannte auch, dass dies nicht der rechte Ort war, um Vermutungen aufzustellen. 
Behutsam wickelte Lean die Scherben in sein Halstuch und sah noch einmal zu dem Ort, wo einst der Spiegel gewesen war und nun dichte Finsternis herrschte. Vorsichtig tastete er sich einen Schritt vor und wurde von dem muffig, feuchten Geruch von abgeschlossenen Gängen unter der Erde umfangen. Hier waren keine Leuchtkristalle, wie im vorderen Bereich, vorhanden; es war stockdunkel. Das Tor in die Anderswelt war also wirklich zerstört, die Aufgabe der Göttin erfüllt.

So lenkte er langsam seine Schritte gen Ausgang und als Lean ins Freie trat war er ein anderer Mensch geworden. Er hatte das Wunder erlebt - nein, er war Teil des Wunders gewesen.

Den Rest seines Lebens verschrieb er sich dem Dienste an der Lichtgöttin. Das Kloster wurde seine Heimstätte, wo er einen kleinen, spartanisch eingerichteten Raum bewohnte. Sein Schwert hing dabei über seinem Bett. Seit damals strahlte die Klinge in einem eigentümlichen, goldenen Licht und Lean hatte es nicht mehr erhoben. 

Es folgten viele schlaflose Nächte, in denen er in seinen Träumen das Grauen von damals nochmals erlebte. 
Dann nahm er die Feder zur Hand und schrieb mit feiner Schrift all das nieder was einst war und den nachfolgenden Generationen zur Mahnung dienen sollte. 
Nur das Geheimnis, wo die Scherben des Spiegels aus der Vergangenheit aufbewahrt, wurde mündlich weiter gegeben. 

Lange schon ist die Hand erkaltet, die dies erlebte. 

Viele Jahreszeiten wechselten und mit diesen auch die Schüler des Klosters. Auf der Suche nach Wissen durchstöberten sie die Bibliothek, saßen über Bücher und Pergamentrollen bei Kerzenschein oder diskutierten miteinander. 
Manch einer von ihnen machte sich auf den Weg in andere Gegenden und Länder und verbreitete so das Wissen und den Glauben, wie man den Samen über das Feld streut, weiter.
Jene Anhänger bauten, oft an weit entfernten Orten, Klöster die wiederum Bibliotheken mit Büchern und Pergamentrollen enthielten, sodass das Wissen immer größer und mannigfaltiger wurde.
Doch eins blieb in den Menschen enthalten; der Wille nach Macht und die Gier nach Gold und Besitz. 

So wurden auch weiterhin Schlachten gekämpft und werden gekämpft werden … 

Der Wind, über dem Schlachtfeld, strich ein letztes Mal über die Wange eines Sterbenden, trug das Gebet und die verzweifelte Frage nach dem „Warum“ mit sich fort.

Er weiß die Antwort, doch vieles ist in Vergessenheit geraten in all den Jahrtausenden und verloren gegangen für lange Zeit oder lebt in Legenden weiter. 

Doch es wurde niedergeschrieben. 

Ruht in Büchern, die von Spinnenweben und Staub bedeckt in tiefen Gewölben liegen und nur der Wind kennt den Weg dorthin. Zu einer Schriftrolle die viel Preis gibt, sollte jemand sie finden, die hoch oben in einem Regal liegt und darauf wartet gefunden zu werden …. 

Eine Legende für die Völker, doch einst Wirklichkeit. 
Ein Spiegel der als Tor in eine andere Welt führte, in der Lebewesen hausen für die der Tod ein Fremdwort ist.
In fünf Einzelteile zersprungen. Doch wenn jene zusammengefügt und an seinen Platz tief unter dem Schwarzfelsgebirge gesetzt werden, öffnet sich der Durchgang in die Anderswelt.

Das Tor ins Ungewisse wurde zerstört und die fünf Spiegelscherben an geheimen Orten aufbewahrt. Bewacht von den Scherbenhütern, wie sich selbst nennen, wurde das Wissen streng bewahrt und nur Auserwählten mündlich weiter gegeben.